“The rate of increase of our problems”

Bern, 22.05.2023 - Zur Kommunikation in der Krise Einführung zu den Bernerhof-Gesprächen vom 22. Mai 2023 von Bundeskanzler Walter Thurnherr

«Never confuse leadership with popularity»

Winston Churchill, 1935


«I think we’ve done a great job”

Donald Trump on handling of coronavirus, may 2020

 

Anrede

1992 wurde ich zu meiner ersten SFU (Strategische Führungsübung) aufgeboten. Der Übung lag ein sehr seltsames Szenario zu Grunde: Unter anderem ging es darum, dass eine ehemalige Teilrepublik der Sowjetunion eine andere ehemalige Sowjetrepublik angriff (also, ich nehme ein Beispiel: Russland greift die Ukraine an). Im Szenario hatte der dadurch ausgelöste Krieg schwerwiegende Folgen in Europa und insbesondere in der Schweiz. Es war sogar vom möglichen Einsatz von Nuklearwaffen die Rede. Wortwörtlich heisst es in der Schilderung der Ausgangslage: «Die Stimmung in der Schweizerischen Bevölkerung ist durch grosse Verunsicherung geprägt» und weiter: «Die als zu grosszügig kritisierte Flüchtlingspolitik des Bundesrates stösst auf Widerstand». Darüber hinaus: «In mehreren französischen Städten ist es im Verlaufe der letzten Wochen zu Grossdemonstrationen gekommen, die regelmässig zu Strassenschlachten mit der Polizei führen». Das Szenario wurde ergänzt mit der Aufforderung Washingtons an die Adresse Europas, mehr für die eigene Sicherheit zu tun. Und dann verloren die Redaktoren der Übung vollends die Nerven und verkomplizierten den Krieg in Europa noch mit Liquiditätsengpässen bei einzelnen Schweizer Banken.

Damals hielt ich das Szenario für absurd, heute muss ich sagen: «La réalité dépasse la fiction». Dannzumal hatten wir die Übung erwartungsgemäss sehr gut gemeistert, heute: «La réalité est plus compliquée qu’un exercice». Zu jener Zeit dauerte die Krise, bzw. die Übung genau 24 Stunden. Heute sind wir dankbar, wenn sie nach zwei Jahren vorbei ist.

Interessant war auch, wie wenig Platz in der SFU 92 die Kommunikation einnahm. Wir schrieben einige passive Sprachregelungen, ab und zu eine Pressemitteilung, und darüber hinaus arbeiteten wir gemäss dem Grundsatz von Mark Twain: «Better to keep your mouth shut and appear stupid than to open it and remove all doubt». Heute ist es fast umgekehrt, wer weltweit die Krisen verfolgt, dem scheint zuweilen, die Kommunikation sei wichtiger als die gelieferte Substanz: Wer sich zum Beispiel öffentlich immer dort in Stellung bringt, wo gerade die Stimmung der Mehrheit zu finden ist und das auch selbstsicher zu erläutern weiss, gilt tendenziell als guter Krisenmanager. Wieweit er die Krise hätte kommen sehen können, ob das Schlimmste abgewendet wurde, ob er verhältnismässig, vorsichtig und gesetzeskonform gehandelt hatte und ob er die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen bereit war, wird zunehmend unter dem Eindruck beurteilt, wieweit der Politiker sich wortreich erklären, günstig positionieren oder mediengerecht entschuldigen kann. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen tatsächlicher Leistung und überzeugender Kommunikation: Wer schlecht arbeitet, wird auch Mühe haben, dies an der Medienkonferenz zu erklären. Trotzdem: Die erfolgreiche (oder missglückte) Pressekonferenz von heute ist weit nachhaltiger und prägender als die gründliche und dann vielleicht kritischere Analyse von morgen und übermorgen. Denn der Abstieg in die langen Kellerkorridore der technischen Details, der trockenen und unbequemen Fakten sowie der juristischen Fragen ist mühselig. Bereits taucht die nächste Krise auf, die nächste ausserordentliche Session und die nächste Gelegenheit zur Aufwallung der politischen Gefühle.

In der Kommunikation werden darüber hinaus von Politikern, insbesondere von Bundesräten, ausserordentliche Bühnentalente erwartet. Es geht nicht mehr nur darum, das Richtige, das Passende und das Notwendige zum rechten Zeitpunkt auszusprechen. Es kommt heute auch darauf an, ob und wie es ihnen gelingt, ihre Betroffenheit vor laufender Kamera zum Ausdruck zu bringen, wie sie ihre Botschaft «darstellen» und wie sie die Empfindung der Bevölkerung zu ihrer eigenen machen - als wären sie nicht nur in den Bundesrat, sondern zum Mitglied eines siebenköpfigen Bühnenensembles gewählt worden, das wöchentlich auftritt, und bei dem die Feuilletonisten auf jeden Versprecher, jedes Lächeln zum falschen Zeitpunkt, jedes Kratzen der Stimme und auf alle Nuancen der Körpersprache achten, um tags darauf «die Performance» zu kommentieren und zu werten.

Überhaupt, es wäre ein weiteres, abendfüllendes Thema, nicht nur über die Kommunikation in der Krise zu diskutieren, sondern auch über die Kommunikation der Medien über die Kommunikation in der Krise zu sprechen, schliesslich gehört die Qualität der Medienarbeit noch zu den letzten Tabus in Bundesbern. Denn natürlich nimmt das vermittelte Bild einer Bundesrätin, eines Bundesrates nicht immer alles auf, was tatsächlich passiert, aber vielleicht noch vertraulich ist. Und da und dort werden bekanntlich auch hierzulande Adjektive so scharf-, bzw. spitzzüngig eingesetzt, dass man sich statt bei der Berichterstattung über die Pressekonferenzen schon in der Kommentarspalte wähnt.

Allerdings kann man in allen Richtungen am Ziel vorbeischiessen. Der «Nouvelliste vaudois» lobte beim Ableben von Bundesrat Cérésole (Paul Cérésole, 1832-1905) den Magistraten über den grünen Klee und schrieb insbesondere: «Er liebte sein Land, und er diente ihm stets auf gewissenhafte Weise». In den Ratsprotokollen ist nicht viel über Cérésole zu finden (er war in fünf Jahren in vier Departementen). In den Tagebuchaufzeichnungen des damaligen Bundeskanzlers auch nicht. Aber am 30. November 1872 steht kurz und bündig: «In der heutigen Sitzung fehlte Herr Cérésole, der beharrliche Schwänzer». Das relativiert den Nachruf natürlich schon ein bisschen.

Aber ja, und zwar ja, fett und unterstrichen: Kommunikation in der Krise ist absolut entscheidend. Zurecht erwartet die Bevölkerung vor allem in der Krise, schnelle, transparente, umfassende und regelmässige Information. Was ist überhaupt geschehen? Was wissen wir? Was wissen wir nicht? – mindestens so wichtig - Was sind die Handlungs-Optionen? Welche Abwägung macht der Bundesrat? Wie beurteilt er die nächsten Entwicklungen? Wann entscheidet er worüber, und wer wird wie in diese Entscheidung miteinbezogen? Etc. Etc.

Insbesondere die Pandemie hat gezeigt, dass die Bevölkerung gut nachvollziehen kann, wenn der Bundesrat zu Beginn einer Krise nicht schon alle Antworten weiss und nicht sofort eine Lösung präsentiert. Aber sie möchte Gewissheit, dass die Regierung, bzw. die Verwaltung die Fragen und Bedürfnisse der Bevölkerung kennt, und dass sie ihnen nachgeht.

Und sie möchte die Wahrheit hören, selbst wenn es nicht gut ausschaut. Nichts kommt schlimmer, als wenn ein Regierungsvertreter die Lage schönredet. Als Präsident Nixon, der für seine vorbildliche Krisenkommunikation bekannt ist, 1972 die neuesten, besorgniserregend hohen Inflationsraten vorstellen musste, meinte er kryptisch: «The rate of increase of inflation is decreasing» (wenn Sie also das nächste Mal zu Hause eingeladen werden, die Entwicklung Ihres Körpergewichts näher zu erläutern, orientieren Sie sich an dieser geschwurbelten Verwendung der dritten Ableitung).

Je länger die Krise dauert, desto mehr kommt es auch darauf an, dass Sie nicht nur extern umfassend kommunizieren, sondern vorher auch intern - im Sinne des vorgängigen Einbezugs, insbesondere der Kantone, der zuständigen Parlamentskommissionen, der betroffenen Branchenverbänden usw. Das hat auch damit zu tun, dass wir uns derart an den Normalzustand der permanenten Konsultation aller massgebenden Kräfte zu mehr oder weniger allen wesentlichen Fragen gewöhnt haben, dass es jeweils einer Krise bedarf, um uns wieder bewusst zu machen, wie aussergewöhnlich unser politisches System ist - und wie empfindlich es reagiert, wenn die Zeitverhältnisse nicht mehr ausreichen, um allen Sonstkonsultierten Gelegenheit zu geben, sich umfassend einzubringen. Ein beträchtlicher Teil der Gereiztheit im Verhältnis zwischen Bundesrat, Parlament und Kantonen im Verlauf der vergangenen Krisen hat mit dem gewachsenen Verständnis zu tun, dass selbst in der Krise die Regierung «nicht einfach so» regieren soll, selbst wenn sie durchregieren könnte. Vor allem, wenn wiederholt - in einer Krise nach der anderen - Notrecht angewendet werden muss, erzeugt das nachvollziehbaren, zum Teil aber auch bewusst geschürten Widerstand. Man kann darüber die Nase rümpfen, schliesslich sehen Verfassung und Gesetz für solch kritische Situationen explizit notrechtliche Kompetenzen vor. Ein Teil der mitunter heftigen Reaktionen lässt sich aber auch als Zeichen einer immer öfter verspürten Ohnmacht verstehen, mit der die verschiedenen Parteien und Kräfte im Land die sicher geglaubte Souveränität an allen Enden abbröckeln und beträchtliche Teile davon in der stürmischen Unübersichtlichkeit scheinbar nationaler, in Wirklichkeit internationaler Entwicklungen davonschwimmen sehen. Das ist eine Diskussion, die noch vertieft zu führen ist. Umso wichtiger ist es, in der Krise einen Kanal der Kommunikation mit möglichst vielen Institutionen aufrecht zu erhalten, die in normalen Zeiten den betroffenen Politikbereich mitbestimmen. Kommunikation ist wesentlich mehr als Information, sie schafft Vertrauen und Zuversicht, dass jemand im allgemeinen Durcheinander eine minimale Ordnung herzustellen bemüht ist.

Meine Damen und Herren, die Kommunikationsarbeit eines Bundesrats ist relativ einfach, wenn er frisch gewählt und noch nicht im Amt ist, wenn er einen runden Geburtstag feiert, einem Olympiasieger gratulieren kann und wenn er aus gesundheitlichen Gründen aus dem Amt scheidet. Dazwischen ist es ziemlich schwierig. Kommt eine Krise, dann wird es spätestens nach der zweiten, dritten oder vierten Pressekonferenz brenzlig, und nicht nur, weil die politischen Gegner instinktiv eine Chance wittern, um sich abzugrenzen, oder weil sich sofort eine eindrücklich hohe Zahl vorher weitgehend unbekannter Experten melden, die alles besser wissen. In der Krise zeigt sich eben, dass die Kommunikationsarbeit für die Krise schon vor der Krise beginnen muss: Das Netzwerk mit den zuständigen Stellen, inklusive den wissenschaftlichen Experten und den Ansprechpartnern der Wirtschaft, können Sie nicht erst in der Krise aufbauen. Wenn Sie erst in der Krise realisieren, dass Sie nicht nur gegenüber der eigenen Bevölkerung, sondern auch gegenüber anderen Regierungen kommunizieren sollten - auf Englisch - dann ist das zu spät (1) . Und wenn Sie erst dann, wenn es darauf ankommt, erkennen, dass Sie die Jungen nicht mehr auf Facebook oder Twitter erreichen, sondern auf Instagram, dann haben Sie es eben verpasst (und nochmals: Wir haben dafür keine zehn Stellen verlangt oder bekommen. Schön wär’s). Im Übrigen gehört auch die Sicherstellung der Medienvielfalt zu den wesentlichen Voraussetzungen, die Regulierung der sozialen Medien und einiges mehr. In seinem kürzlich erschienenen Buch «The Crisis of Democratic Capitalism» erinnert ausgerechnet der Co-Editor der Financial Times, Martin Wolf, in diesem Zusammenhang an die Bedeutung des öffentlichen Fernsehens und Radios: «Countries that are lucky enough to have inherited high-quality public service broadcasters…from a better past, should defend them to the death». Es gäbe offene Fragen zum Angebot und zur Finanzierung. «Yet these institutions are still among the most important sources of a body of facts, national sensibility, and national conversation». Kurz, in der Krise kommen nicht nur Kommunikationstalente zum Vorschein, sondern auch verpasste Chancen oder vorher gemachte Fehler.

So, jetzt möchte ich aber nicht noch mehr kommunizieren. Nutzen wir diesen ruhigen Abend nach der letzten und vor der nächsten Krise und versuchen wir, die Krisenkommunikation mindestens so weit zu verbessern, dass wir nach der nächsten SFU beruhigend feststellen können: «The rate of increase of our problems is decreasing». Vielen Dank und gute Unterhaltung.

 

Fussnoten:

  •  (1):"Die Schweiz hat diesbezüglich in den 1990er-Jahren schmerzliche Erfahrungen machen müssen. Die Frage bleibt, ob wir für eine vergleichbare Krise wesentlich besser gerüstet wären. Vgl. Thomas Maissen, Verweigerte Erinnerung, nachrichtenlose Vermögen und Schweizer Weltkriegsdebatte. Daraus: "Und wenn man unter "Wahrheit" nichts anderes versteht als einen vorübergehenden Konsens in öffentlicher Kommunikation, so war die Schweiz vor dem mediatisierten Welttribunal mit ihrer "Wahrheit" offensichtlich unterlegen gegen Antagonisten, die bessere…und plausiblere Geschichten erzählt hatten"


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