Eine gute Zeit zum Lesen

Berna, 15.02.2018 - Rede zur Verleihung der Schweizerischen Literaturpreise 2018 von Bundeskanzler Walter Thurnherr. Es gilt das gesprochene Wort.

„Das Wort ist ein Wühler. Die Sprache ist eine Waffe." J.R. von Salis

Es ist eine gute Zeit, um Literatur zu lesen. Einem Autor aufmerksam zu folgen, wenn scheinbar alle hastig herumschreiben. Gelesenes nochmals aufzusuchen, und daran anknüpfend den eigenen Gedanken aus der vernebelten Unordnung im Hinterkopf herauszuschälen. Literatur - Sie entschuldigen den Reflex eines langjährigen Bundesbeamten - hat keine gesetzlich genau geklärte Aufgabe. Aber sie erfüllt eine Reihe von Funktionen und befriedigt eine Fülle von Bedürfnissen, von denen ich heute einen Beitrag speziell hervorheben möchte. Es sind jene Hilfestellungen und Anleitungen in literarischen Texten, über Dinge nachzudenken, die wir vielleicht gesehen, aber nicht erkannt haben. Etwa wenn es um die Frage geht, wie wir die Sprache einsetzen, wie wir gegenüber anderen argumentieren, begründen, streiten und politisieren.

Botho Strauss meinte, dass sich ein Autor heute schon glücklich schätzen darf, wenn es ihm gelingt, als fleissiger Dolmetsch das Kürzel- und Behelfsdeutsch in ein geweitetes, gedehntes zu übertragen und in gut gegliederten Perioden den Anschluss an die langlebende Literatur herzustellen. Ich glaube, dass nicht nur das Zurückübersetzen, sondern auch die kritische Auseinandersetzung mit diesem Behelfsdeutsch, mit seinen Verkürzungen und Verzerrungen, mit seinen Verschweigungen, falschen Zuspitzungen und mit seinem gefährlichen Ungefähren, notwendig ist. (Und das trifft genau so zu für das Behelfsitalienisch wie für das Behelfsfranzösisch.) Denn immer öfter wird dieses Behelfsdeutsch zum zornigen Schlagabtausch eingesetzt. Online und Offline. Und oft nicht, um einen eigenen Punkt besser, sondern um eine andere Person schlechter zu machen. Immer deutlicher wird auch in der politischen Auseinandersetzung die Grenze zwischen legitimer Übertreibung und unbeherrschter oder gezielter Hetze überschritten - vor allem dort, wo hinter der Aufwallung ein Charakterchen statt ein Charakter steckt. Und immer häufiger denkt man sich: Hätte der oder die nur zwei Tage Zeit gehabt, um den „Recall Button" zu drücken und damit seine Zuschrift zu löschen, bevor sie ein anderer hat lesen müssen. Vielen wäre vieles erspart geblieben.

Literatur bietet Raum, um solche Konstitutionsschwächen zu reflektieren. Denn neu sind sie nicht. Es gibt bei Gottfried Keller eine Stelle, die messerscharf beschreibt, wie es in einer Gesellschaft zu und her geht, in der zwar nicht geschossen, aber mittels Sprache derart gestochen und gehauen wird, dass man nachdenklich mit den gegenwärtigen Umständen zu vergleichen beginnt. Ich lese Ihnen einen Auszug dieser Geschichte über die Leute von Seldwyla mit dem bezeichnenden Namen „Das verlorene Lachen" vor:

„Es entstand zuerst ein Ausspotten einiger nicht bedeutender Personen an irgend einem Punkte, dann ein Verhöhnen einiger anderer, die schon mehr Bedeutung hatten, wegen halb lächerlicher, halb unzukömmlicher, immerhin entstellter Eigenschaften. Eine spott- und verfolgungslustige Laune verbreitete sich mehr und mehr, es bildeten sich Anführer und Virtuosen im Hohn und der Entstellung aus, und bald verwandelte sich der lustige Spott in grimmige Verleumdung, welche umherras'te, die Häuser ihrer Opfer bezeichnete und das persönliche Leben auf das Strassenpflaster herausschleifte.

Nachdem diese Opfer in einen Teig von Lächerlichkeit, bestehend aus erfundenen körperlichen Gebrechen und Gewohnheiten, meist nur etwa linkischen Gebärden, eingeknetet waren und so herumgestossen wurden, legte man ihnen plötzlich längst begangene geheime Verbrechen, einen abscheulichen Lebenswandel, eine Niedrigkeit der Denk- und Handlungsweise zur Last, welche durch das Ansehen, das sie bisher genossen, nur um so greller und unerträglicher hervorgehoben wurden. Zwar wurden die Anschuldigungen bestimmter Übeltaten, welche sofort einem Kriminalverfahren nach allen Seiten hin rufen mussten, beim ersten Aufschrei der Betroffenen lächelnd fallen gelassen. Allein der Abscheu blieb an den Personen haften und aller übrige gestaltlose Unfug wurde festgehalten durch die Ratlosigkeit der Verfolgten, und bei dem allgemeinen Schrecken und Widerwillen entstand eine förmliche Straflosigkeit, zumal jede Prozessverhandlung zu einem Feste für die Verfolger zu werden begann und mit den schwersten Drohungen begrüsst wurde.

So eilten denn aus allen Ritzen und Schlupfwinkeln die Teilnehmer an dem allgemeinen Reichstage der Verleumdung und der Beschimpfung herbei. Personen, deren eigene physiognomische Beschaffenheit, Lebensarten und Taten sie selbst zum Gegenstande der Schilderung, des Unwillens und des Spottes zu machen geeignet waren, stellten sich gerade in die vorderste Reihe und erhuben als rechte Herzoge der Schmähsucht und der Verleumdung ihre Stimme, und je lauter der grimmige Lärm war, desto stiller und kleinlauter wurden die Geschmähten. Ein für die Betroffenen furchtbarer Gemeinplatz wurde von den gedankenlosen Gaffern ausgesprochen. Wenn nur der hundertste Teil der Anschuldigungen wahr wäre, so würde das mehr als genug sein! Hiess es, und sie bedachten hiebei nicht, dass ja jeder von ihnen einen solchen hundertsten Teil auf den Schultern trüge, wenn gerecht gemessen würde."

Und mit unerhörter Klarheit fährt Keller fort:

„Männer, die in ihrer entstellten Gestalt mitten in der Not und Verfolgung standen, in der doch kein Tropfen Blut floss und kein Arm berührt wurde, sahen sich von alten Freunden verlassen, die unentschlossen ihren Unschuldsbeteuerungen zuhörten und für sich selber darum nicht um so besser fuhren.

Andere, die ein entscheidendes Wort des Mutes hätten sprechen können, schwiegen still, um nicht vor der Braut oder der Gattin eine infame Beschmutzung erleiden zu müssen, und wiederum andere schwiegen aus Sorge für den Frieden und die Unschuld ihrer unmündigen Kinder. Mancher dankte nur Gott, dass er bis jetzt verschont geblieben, wenn er bedachte, dass diese oder jene menschliche Schwäche, die ihn vielleicht schon angewandelt, dem Unheil einen Angriffspunkt bieten könnte, und er hielt sich mäuschenstille."

Und dann schliesst Gottfried Keller mit der Bemerkung ab:

„Übrigens war nicht zu verkennen, dass das Bewusstsein, es sei eigentlich nur ein grosser, etwas grober Spass, nicht fehlte. [...] Der aktive Lügnerhaufen glich der volkstümlichen Dorfklätscherin, welche in ihrem Humor es für selbstverständlich hält, dass jeder zusehe, was er glauben wolle, und dass jeder Angeschwärzte ihr den Spass nicht allzu übelnehme."

Es ist eine gute Zeit zum Lesen, weil eben viele Fragen und Abgründe und Dilemmas und Zusammenhänge, die uns heute beschäftigen, in ihrem Kern schon von anderen angefasst, beleuchtet und erörtert wurden. Oder werden. Bücher Lesen hilft. Wie gesagt, Literaturschaffende haben keine spezifische, offiziell gestellte Aufgabe. Und sie müssen nicht unbedingt, wie das Julián Marías bildschön ausgedrückt hatte, die Muttersprache wie einen Kelch durch die feindliche Menge der Landsleute tragen. Literatur und Literaturschaffende sind auch nicht da, um für jede Wendung der Tagespolitik ein passendes intellektuelles Fürzli beizusteuern. Im Gegenteil - kaum etwas ist peinlicher als Interviews mit Schriftstellern, bei denen diese als Expertinnen oder Experten zu allen möglichen Fragen des Lebens, der Moral, der Politik, des Tennis und des extragalaktischen Universums befragt werden (Ausnahmen bestätigen die Regel). Lesen hilft, weil in der Literatur Stimmungen oder Entwicklungen und Fragestellungen eingefangen, verdichtend dargestellt und herausgearbeitet werden, von denen wir vorher nicht einmal wussten, dass wir sie nicht begriffen hatten. Und weil einem beim Lesen - oder dann später - plötzlich etwas aufgeht. Zum Beispiel: Genau das ist mir selbst schon widerfahren. Oder: Das geht ja zu und her wie in der Oase von Jonas Lüscher. Oder wie bei Dürrenmatts Besuch der alten Dame, oder eben wie bei denen in Seldwyla. Und weil man dann hoffentlich selber weiterdenkt: Bei uns muss es doch noch möglich sein zu sagen, was einen richtig dünkt - ob es nun um die Folgen der Migration geht, die man nicht mehr zu tragen bereit ist, oder um die Verhandlungen mit der EU, die man vorwärts bringen will. Und zwar ohne dass man deswegen von politischen Gegnern und deren selbster-nannten Adjutanten von Bundesbern bis daheim ins Wohnquartier mit immer schlechteren Sprüchen eingedeckt, am Telefon beschimpft und über E-mails mit hysterischen Ergüssen bedient wird. Denn es ist ja kein Phänomen, das auf die Bundesebene beschränkt bleibt - oder wie Carl Spitteler (in anderem Zusammenhang) die Stafette der Aufhetzer über mehrere Stufen beschrieben hatte: „Die Apostel sind unduldsamer als die Propheten, die Pfäfflein unduldsamer als die Apostel. Und je tiefer in die Gemeinde hinab, desto dumpfer und giftiger wird die Luft." Bei uns muss das harte, aber gezähmte Austragen von Differenzen möglich sein, wenn wir auch in Zukunft direktdemokratisch entscheiden wollen. Streiten ist nötig. Aber das heisst nicht, den Streit auf jedem Niveau auszutragen. Und dann leichthin oder scheinheilig von Stilfragen zu sprechen, wenn jemand interveniert. Natürlich gibt es in anderen Ländern, Parlamenten und Ratssälen Zustände, gegen die sich unser Zank wie ein harmloses Schultheater ausnimmt. Aber nur weil es dort schlimmer ist, müssen wir uns ja nicht genau dorthin bewegen. Die Erfahrung zeigt einfach: Wer nicht aufhören kann, andere schamlos herabzusetzen, wird früher oder später damit anfangen, hemmungslos gegen sie vorzugehen.

Es ist eine gute Zeit zum Lesen. Und eigentlich war es immer eine gute Zeit zum Lesen, weil die Literatur viele Schätze wie den eben zitierten von Gottfried Keller bereithält. Und weil diese Schätze in wunderbare Geschichten verpackt sind, bei denen man zuweilen ausgelassen lachen oder träumen darf, oder nachdenklich werden muss, und die einen nie loslassen, weil sie eben gut geschrieben sind. Allen, die solche Literatur fertigbringen, aber auch den Übersetzerinnen und Übersetzern, die uns den Zugang zu guter Literatur aus anderen Sprachen eröffnen, möchte ich heute Abend danken. Und den glücklichen unter ihnen, die einen Preis dafür erhalten, von Herzen gratulieren. 


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