Social Media or Social Mess? - Einfluss der sozialen Medien auf die Politik in der Schweiz

Bern, 09.05.2022 - Einführung zu den Bernerhof-Gesprächen der Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften, 9. Mai 2022 Bundeskanzler Walter Thurnherr

“Täglich prasseln tausend Probleme auf den geängstigten und geschmeichelten Abonnenten; genau wird er über das Steuerwesen auf Honolulu, die Guttemplerbestrebungen bei den Eskimos, das Anwachsen der homosexuellen Kreise auf den Straussenfarmen, die ersten Uhren und die letzten Frauenzimmer unterrichtet. Und immer mit der Anmassung der Gründlichkeit. Es ist die Verbreitung der Ignoranz durch die Technik” 
Kurt Tucholsky, 1924

“The real opposition is the media. And he way to deal with them is to flood the zone with shit”
Steve Bannon, 2018

 

Unweit der Villa Diodati in Cologny am Genfersee, wo sich im verregneten Sommer von 1816 einige wohlhabende britische Touristen unter dem Einfluss von «Laudanum liquidum», zu Deutsch «Mohnsaft», gegenseitig Schauergeschichten erzählten und daraus Mary Shelleys Erzählung über den jungen Schweizer Viktor Frankenstein entstand, skizzierte 173 Jahre später ein anderer Brite, Tim Berners-Lee, angeblich ohne den anregenden Einfluss von «Laudanum liquidum», das Design für das World Wide Web, dessen Realisierung uns seither beträchtlichen Fluch und Segen brachte.

Der Segen ist unbestritten, zuweilen überbewertet. Kürzlich erzählte mir jemand, dass das Handy seiner Tochter während der Ferien im Ausland den Geist aufgegeben habe, was den Teenager kurzerhand zur Feststellung veranlasste: «Mein Leben macht keinen Sinn mehr!».

Beim Fluch gehen die Meinungen auseinander. Heute Abend sprechen wir über einige Anwendungen im World Wide Web, die inzwischen deutlich kritischer beurteilt werden als dies in der Vergangenheit der Fall war. So schrieb vor zehn Jahren Mark Zuckerberg in einem Brief an seine Aktionäre über die Möglichkeiten und Verbindungen, die sich über Facebook eröffneten: «By helping people form these connections, we hope to rewire the way people spread and consume information». Und vor drei Wochen antwortete Jonathan Haidt in einem viel beachteten Artikel unter dem Titel «Why the past 10 years of American life have been uniquely stupid», was aus diesem Neuverdrahten der Gesellschaft geworden ist:
«By rewiring everything in a headlong rush for growth – with a naive conception of human psychology, little understanding of the complexity of institutions, and no concerns of external costs imposed on society – Facebook, Twitter, YouTube and other large platforms unwittingly dissolved the mortar trust, belief in institutions, and shared stories that had held a large and diverse secular democracy together»
[1].

Tatsächlich haben sich spätestens seit 2009, als Google begann, die Suchergebnisse zu personalisieren, als Twitter den «Retweet-Button» erfand und Facebook den «Like-Button» einführte, Netzwerkeffekte eingestellt, die zwar seit Jahrzehnten bekannt und auch recht genau vorhergesagt worden waren, deren konkrete Effekte und unbeabsichtigten Folgen jedoch erst mit dem Ausgang des Brexit-Referendums und der amerikanischen Wahlen von 2016 ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit traten.

Allerdings dämmerte es bereits vorher einigen, dass soziale Medien wie eine gewaltige «Gesellschafts-Elektrolyse» mindestens so sehr Bevölkerungen teilten und trennten, statt sie zu verbinden, wie Mark Zuckerberg 2012 messianisch verkündet hatte. Spätestens seit «Cambridge Analytica» sowie den Hearings vor dem amerikanischen Kongress versucht auch Facebook den Geldesel, den sie nun «Meta» nennen, und der ähnlich dem Monster von Viktor Frankenstein ausser Kontrolle geraten ist, wieder zu zähmen und politikfähiger zu machen, bevor andere ihm noch mehr Zügel anlegen. Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass der Leitsatz «Move fast and break things» am Hauptsitz von Facebook inzwischen von einem Kritiker übersprayt worden ist und neu lautet: «Move slowly and fix your shit» - ein Vorsatz, der im Übrigen auch in einigen anderen Politikbereichen zuoberst auf der Traktandenliste stehen könnte.

Natürlich gibt es auch in der Schweiz Hassreden, Filterblasen und Fake-News, und wer das nicht glaubt, war während der Pandemie nicht hier, als man in einzelnen Kantonen versuchte, das Virus mit Trychler-Umzügen zu vertreiben. Gewiss gibt es auch hierzulande «Flat-Earther». Sie sind nicht nur überzeugt, dass die Welt eine Scheibe ist. Sie haben sich auch weltweit vernetzt und twittern munter: «We have members all around the globe». Ausrufezeichen. Längst ist «Social Media Competence» auch in Bundesbern so wichtig wie das Beherrschen einer Fremdsprache, wenn nicht noch wichtiger: Während vor dreissig Jahren ein neugewählter Nationalrat an seinem ersten Sessionstag ehrfürchtig das «Unus pro Omnibus» der Bundeshauskuppel bestaunte und sich angesichts der Sammlung der in der Eingangshalle des Parlamentsgebäudes aufgestellten Bären, Hellebarden und Ritter eingeschüchtert vornahm, mindestens eine Session lang bescheiden zu schweigen und zu lernen, zückt der neugewählte Nationalrat von heute schon am ersten Tag sein Handy, hält es vor sich hin, nimmt sich selber auf, erläutert seine Gefühle und ist überzeugt, dass das die Bürger wissen wollen! (natürlich trifft das nicht für alle zu, es gibt auch andere...). Seit wir soziale Medien haben, sind wir alle zu Sendern geworden. Zum Empfang und zur Verdauung haben wir keine Zeit. Wer etwas ist, hat auch etwas zu sagen, und wer nicht mehr sendet, ist wahrscheinlich schon tot! (ich übertreibe ein bisschen, aber schliesslich möchte ich diese Zeilen noch heute Abend in den sozialen Medien auf allen Kanälen versenden - und nichts wird so gern gelesen wie Übertreibungen…).

Doch wenn es nur darum gehen würde, der verlorenen Übersicht und der analogen Ordnung nachzutrauern und mit nachdenklicher Pose hinter die Digitalisierung ein Fragezeichen zu setzen, hätten wir keine Bernerhofgespräche zu organisieren brauchen - es hätte genügt, die Stühle im Kreis aufzustellen und eine ausserparlamentarische Selbsthilfegruppe zu konstituieren. Tatsächlich liegen die Dinge etwas komplizierter. Nur drei Beispiele:

Erstens braucht es keine sozialen Medien, um zu polarisieren, zu hetzen und zu lügen. Schauen Sie sich einmal die Schweizer Zeitungen des 19. Jahrhunderts an. Im Vergleich zu den schrillen und giftigen politischen Angriffen von damals, liest sich die Weltwoche von heute wie ein Pfarrblatt. Es wurde geschimpft, gezetert, verunglimpft und gelästert. Parlamentarier forderten sich gegenseitig zum Duell auf, und die Reden im Nationalratssaal wurden vom Tribünenlärm unterbrochen [2].

In anderen Ländern sowieso. Wer heute zurecht auf die Desinformationen aus Moskau verweist, auf die Troll-Fabriken bei Petersburg und die dreisten Lügen, die über Tausende von Fake-Accounts verbreitet werden, der übersieht leicht, dass sich die zaristische Ochrana, die sowjetische Tscheka und der KGB genau derselben Methoden bedienten wie heute der FSB und der GRU, einfach ohne das Internet. Und zurecht wies kürzlich Expräsident Barack Obama darauf hin, dass es eben nicht genügt, Putin die Schuld zu geben, wenn die eigene Bevölkerung allen Verschwörungstheorien Glauben schenkt [3]. Soziale Medien verstärken Schwächen, erweitern Risse und vergrössern Gräben, die viele Gesellschaften spüren, wenn sie sich auseinanderleben - kaum ein Slogan hat in Grossbritannien nach der Finanzkrise von 2008 tiefere Spuren hinterlassen als die Erfahrung, die die Arbeitslosen in Nordengland machten: «In London they are too big to fail, here we are too small to matter». Aber Hass, Verzweiflung, Entfremdung und Armut sind oft das Resultat einer unzureichenden Politik und nicht, oder zumindest nicht nur, die Folge von unerwünschten sozialen Medien.

Zweitens, die sozialen Medien bestehen nicht nur aus Twitter, WhatsApp und Youtube. Es gibt unerhört viele nützliche Plattformen, welche das Leben erleichtern, die Meinungsbildung bereichern, die politische Partizipation fördern, die Solidarität stärken und die Demokratie verbessern. Die Frage ist eben nicht: Entweder Social Media oder Social Mess. Es kommt auch darauf an, was man damit anfängt. Mündige Bürgerinnen und Bürger hinterfragen, was ihnen gesagt wird, und clevere Politikerinnen und Politiker nutzen die sozialen Medien, um zu informieren und zu überzeugen, statt andere herabzusetzen oder mit eitlen Fotos zu überschwemmen, die einen beim Handshake zeigen oder beim Telefonieren oder beim Lächeln.

Die Erfahrungen vor allem zu Beginn der Corona Pandemie haben gezeigt, wie gross das Bedürfnis der Bevölkerung nach unabhängiger journalistischer Recherche, nach Kontext und nach Fakten ist. Und die Befragungen nach den Abstimmungen in der Schweiz zeigen, wie stark sich die Stimmenden auf die Analysen in der Presse und auf das Abstimmungsbüchlein abstützen und wie - im Vergleich dazu - relativ klein der Einfluss der sozialen Medien ist.

Klar, mehr soziale Medien bedeuten nicht automatisch mehr Demokratie. Bill Clinton hatte nicht recht, als er vor dem WTO-Beitritt Chinas im Jahr 2000 erklärte: «We know how much the Internet has changed America, and we are already an open society. Imagine how much it could change China» [4]. Aber umgekehrt haben auch jene nicht recht behalten, die mit den sozialen Medien jedes Mal den Untergang der Demokratie in Verbindung bringen. Und soziale Medien sind keine Naturphänomene. Es gibt politischen Gestaltungsspielraum.

Und das führt mich zum dritten Punkt: Was nicht eindeutig gut ist, aber auch nicht nur gefährlich und unumstritten sündig, ist auch nicht einfach zu regulieren. Soll Elon Musk entscheiden, ob Donald Trump auf Twitter pöbeln darf? Ist eine externe Zensurkommission bei Facebook, die Bundesversammlung oder die EU-Kommission zuständig, wenn es abzuwägen gilt, ob ein Schweizer Nationalrat mit einem ‘meme’ zu weit gegangen ist? Wie soll die Medienvielfalt erhalten werden, wenn alle Werbeeinnahmen in die grossen Plattformen im Ausland fliessen? Was passiert mit all den persönlichen und allen anonymisierten Daten, und wer entscheidet darüber? Während wir sonst in jedem Detailbereich unseres Lebens pedantisch darüber wachen, wer genau in der föderalistisch, direktdemokratischen Eidgenossenschaft worüber wann und wie entscheidet, verfolgen wir diese – internationale – Debatte, mit erstaunlich fatalistischem Gleichmut. Hier sind massenhaft fremde Richter am Werk, ohne dass wir uns aufregen. Wenn wir heute Abend über die sozialen Medien sprechen, könnte man deshalb gleich weiterfahren mit «Aussenpolitik» oder «Europapolitik». Hier gibt es Verbindungen. Die sozialen Medien haben die Räume verkleinert, wir sind von denselben Dingen betroffen, wie andere Staaten auch, und es sollte uns kümmern, wie sie geregelt werden. Ich schlage deshalb vor, Sie bleiben nachher gleich sitzen, und wir verlängern die Diskussion um ca. drei Tage und drei Nächte, damit wir die Europapolitik auch noch klären können.

Meine Damen und Herren, Sie wissen es aus der Schule, bzw. von der speziellen Relativitätstheorie, dass es nicht möglich ist, die Zukunft vorauszusehen, es sei denn, Sie [5] bewegen sich viel schneller als Licht, oder Sie arbeiten bei einer Sonntagszeitung. Zum Glück haben wir zwei herausragende Persönlichkeiten der Schweizer Politik gewinnen können, die immerhin die aktuelle Situation gut analysieren und gewichten werden, damit Sie sich ein besseres, eigenes Bild zu diesen Fragen machen können. Ich danke beiden schon jetzt für ihre Teilnahme und übergebe nun gerne das Wort.

[1] The Atlantic, Jonathan Haidt, 11. April 2022
[2] Die Presse machte sich allerdings (auch) schon damals lustig, wenn es Parlamentarier zu bunt trieben. So liess die Schwyzer Zeitung 1851 folgende Grabinschrift für den Fall abdrucken, dass sich die zwei Nationalräte (Frey (BL) und Jäger (AG)) im angekündigten Duell gegenseitig umbringen sollten «Hier ruhen zwei Schläger / Herr Frey und Herr Jäger / Weine Helvetia / Um diese Söhne da / Gleich muthig, gleich stolz und treu / Herr Jäger und Emil Frey».
[3] «Technology and Democracy», Barack Obama, keynote address at the Stanford University, published April 22, 2022.
[4] Speech of President Bill Clinton at the Paul H. Nitze School of the John Hopkins University on China Trade Bill, March 8, 2000. Die Rede ging weiter mit dem berühmten Satz: “Now there’s no question China has been trying to crack down on the Internet. Good Luck! (Laughter). That’s sort of like trying to nail jello to the wall (Laughter)”. Inzwischen hat China den “jello” ziemlich satt an die Wand genagelt.
[5] …und alle anderen Dinge.


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